Changing the Game
(Bild: OFFIS e. V.)
15.09.2020 | Bioenergie, Energiewendebauen, Erneuerbare Energien, Flexible Energieumwandlung, Industrie und Gewerbe, Start-ups, Stromnetze, Systemanalyse, Wasserstoff

"Spiele sind ein gutes Werkzeug für die Bürgerbeteiligung"

Für Forscher ist es oft schwierig, viele Bürger in ihr Projekt einzubeziehen.  Steffen Wehkamp und Mathias Lanezki haben dieses Problem spielerisch gelöst: Ihr Projekt ENaQ, bei dem ein energetisches Nachbarschaftsquartier entsteht, lässt sich auf einem Spielbrett simulieren. So erreichen sie vor allem junge Anwohner erfolgreich.

Stef­fen Weh­kamp und Ma­thi­as La­nez­ki sind als In­ge­nieu­re ei­gent­lich in der tech­ni­schen Welt zu Hause. Für das In­sti­tut für In­for­ma­tik OFFIS, das die wis­sen­schaft­li­che Lei­tung von ENaQ in­ne­hat, un­ter­stüt­zen sie die Pro­jekt­lei­tung und küm­mern sich um die wis­sen­schaft­li­che Be­glei­tung der Ge­schäfts­mo­dell­ent­wick­lung. Ein be­son­de­rer Teil von ENaQ ist der Par­ti­zi­pa­ti­ons­pro­zess. Hier wer­den Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in die Ent­wick­lung eines neuen Quar­tier­s­kon­zep­tes ein­ge­bun­den, bei dem En­er­gie aus der Nach­bar­schaft kommt, Spei­cher, Ver­sor­gungs­net­ze und Sek­to­ren­kopp­lung eine Rolle spie­len und ein in­tel­li­gen­tes Last- und Be­schaf­fungs­ma­nage­ment ein­ge­führt wird. (Mehr In­for­ma­tio­nen zum Pro­jekt ENaQ auf En­er­gie­wen­de­bau­en.) Dass die bei­den am In­sti­tut für In­for­ma­tik ein auf­wen­di­ges und sogar ana­lo­ges Spiel ent­wi­ckeln wür­den, war für beide am An­fang nicht ab­zu­se­hen.

Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in ein For­schungs­pro­jekt ein­zu­bin­den kann sich als schwie­ri­ge Auf­ga­be her­aus­stel­len. Wie sind Sie diese Auf­ga­be an­ge­gan­gen?

Weh­kamp: Uns fehl­te ein Me­di­um, mit dem wir den Aus­tausch unter Bür­ger_in­nen verstärken sowie ihre Ge­dan­ken er­fah­ren konn­ten. Gibt es zum Bei­spiel Ängs­te vor Was­ser­stoff im Quar­tier? Oder all­ge­mei­ner: Gibt es Pro­ble­me, die wir noch gar nicht ge­se­hen haben? Oder schaf­fen wir durch neue Tech­no­lo­gien Schwie­rig­kei­ten bei An­woh­ne­rIn­nen, wel­che wir bis­her nicht ab­se­hen konn­ten? Wel­che Spra­che nut­zen wir über­haupt, wie wer­den wir wahr­ge­nom­men und wie kön­nen wir die Ak­zep­tanz stei­gern? Es ging also wirk­lich um einen Aus­tausch.

La­nez­ki: Wir haben dann auf einem Work­shop ein Spiel ge­spielt, Chan­ging the Game, das den Wan­del eines eu­ro­päi­schen En­er­gie­sys­tems si­mu­liert. So etwas woll­ten wir auch haben, nur eben für unser Quar­tier.

Das Changing-the-Game-Spielbrett (Bild: OFFIS e. V.)
Das Changing-the-Game-Spielbrett (Bild: OFFIS e. V.)

Weh­kamp: Wir haben zu­nächst ein klei­nes Kar­ten­spiel ent­wi­ckelt. Dann haben wir uns mehr damit be­schäf­tigt, mehr Rück­mel­dun­gen ein­ge­holt und ge­merkt, dass das Projekt grö­ßer wird. Und auf ein­mal ent­stand ein Brett­spiel.

Ein Spiel klingt erst ein­mal mehr nach Spaß als nach har­ter Ar­beit. Ist das der Vor­teil des For­mats?

Weh­kamp: Tro­cken ge­sagt: Aus Pro­jekt­sicht ist das Ziel des Lern­spie­les, ein Werk­zeug für die Bür­ger­be­tei­li­gung zu haben. Aber wir haben schnell ge­se­hen: So er­rei­chen wir ver­schie­de­ne Al­ters­grup­pen. Und zwar nicht nur mit einer Bot­schaft, son­dern auf vie­ler­lei Ebe­nen: Wir kön­nen er­klä­ren, was ENaQ ist. Viele Ol­den­bur­ger_in­nen haben von dem Pro­jekt schon ein­mal ge­hört, aber wis­sen nichts Ge­nau­es. Dann haben wir auch für jede Tech­no­lo­gie eine Spiel­kar­te. Wer sich diese bei öf­fent­li­chen Ver­an­stal­tun­gen kurz an­schaut, be­kommt schon einen Ein­druck von der tech­no­lo­gi­schen Viel­falt, die so ein Pro­jekt mit sich brin­gen kann.

Und wenn man es dann spielt, wird es kon­kret: Was ist eine Wär­me­pum­pe, was ist ein Elek­tro­ly­seur, und lohnt sich das bei mir über­haupt? Wie be­trifft mich die Vo­la­ti­li­tät der Er­neu­er­ba­ren? Ma­thi­as und ich woll­ten diese Kom­ple­xi­tät und vor allem den Be­darf an Aus­tausch er­leb­bar ma­chen.

"Wer hier nur auf eine Karte setzt, der er­reicht seine Ziele nicht"

La­nez­ki: Man fängt an in einem Sys­tem zu den­ken. So ver­mit­teln wir Wis­sen, wäh­rend die Spie­ler_in­nen Spaß haben. Und wir be­kom­men wei­te­re Rück­mel­dun­gen. Die­ser par­ti­zi­pa­ti­ve Pro­zess hat auch star­ken Ein­fluss auf die Ent­wick­lung des Spiels ge­habt.

Wie läuft das Spiel nun genau ab?

Weh­kamp: Ziel des Spiels ist, in drei Pha­sen die Ziele der Bun­des­re­gie­rung für 2030, 2040 oder 2050 zu er­rei­chen. In den Be­rei­chen der CO2-​Emissionen, des En­er­gie­ver­brauchs ins­ge­samt und der Mo­bi­li­tät noch ein­mal ex­pli­zit. Dabei spie­len drei bis sechs Spie­ler_in­nen über zwei­ein­halb Stun­den, also schon lange. Es gibt auch eine Mo­de­ra­ti­on, weil viele kom­ple­xe Zu­sam­men­hän­ge vor­kom­men.

Man baut das Quar­tier auf, be­kommt Kar­ten, die kos­ten aber Geld und ver­brau­chen Res­sour­cen. Wei­te­re Kar­ten sen­ken den Ver­brauch, ver­än­dern die Kos­ten, die Emis­sio­nen oder den Kom­fort. Dabei gibt es erste Er­kennt­nis­se. Die Wär­me­ver­sor­gung kann güns­ti­ger wer­den, wenn man die Nach­ba­rIn­nen ins Boot holt. Das be­lieb­te Was­ser­stoff­au­to ist im Quar­tier gar nicht so ein­fach um­zu­set­zen. Die Spie­ler_in­nen sind dann oft über­rascht, wie viele Maß­nah­men es braucht. Wer hier nur auf eine Karte setzt, der er­reicht seine Ziele nicht. Erst das Um­le­gen vie­ler Hebel und der Auf­bau eines kom­ple­xe­ren Sys­tems füh­ren zu guten Er­geb­nis­sen.

"Man kann ver­schie­de­ne Wis­sens­ebe­nen mit­neh­men"

So ein kom­ple­xes Spiel rich­tet sich aber nicht an Kin­der, oder?

La­nez­ki: Tat­säch­lich haben wir es auch mit Schü­ler_in­nen aus­pro­biert, aber es ist eher etwas für Äl­te­re. Dabei ist das In­ter­es­se durch Fri­days for Fu­ture groß und die Leh­rer_in­nen wis­sen nicht immer, wie sie da In­hal­te der En­er­gie­wen­de rich­tig ver­mit­teln kön­nen. Ich habe es auch mit Grup­pen ge­spielt, in der die Jüngs­ten 16 Jahre alt waren. Die haben das er­staun­lich schnell be­grif­fen und selbst­stän­dig ge­spielt, auch wenn die Dis­kus­sio­nen na­tür­lich an­ders als bei fach­li­chen Work­shops lau­fen. Trotz­dem: Wir haben hier eine sehr junge Ziel­grup­pe er­reicht, da freu­en wir uns na­tür­lich.

Weh­kamp: Man kann ver­schie­de­ne Wis­sens­ebe­nen mit­neh­men. Schü­le­rIn­nen sehen: Er­neu­er­ba­re En­er­gien stei­gern, CO2 re­du­zie­ren, das ist bei­des gut. Und die En­er­gie­tür­me, die die Spieler_innen bauen können, vi­sua­li­sie­ren das ja auch. Schü­ler_in­nen fra­gen dann, was ist der Un­ter­schied zwi­schen Pho­to­vol­ta­ik und So­lar­ther­mie. Ex­per­tIn­nen dis­ku­tie­ren Leis­tungs­kenn­zah­len, etwa von Wär­me­pum­pen. Aber wir wur­den auch von einer Leh­re­rin an­ge­spro­chen, die das Spiel mit 13-​Jährigen spie­len will. Da ist dann etwas Vor­ar­beit im Un­ter­richt not­wen­dig. Was sind Leis­tung, Ar­beit und En­er­gie, warum braucht eine Gas­ther­me eine an­de­re Menge an En­er­gie als eine Wär­me­pum­pe, um die­sel­be Wärme be­reit­stel­len zu kön­nen. Sol­che The­men. Und die Schü­ler_in­nen sind in­ter­es­siert.

"Lern­spie­le sind als Werk­zeug für die Bür­ger­be­tei­li­gung gut ge­eig­net"

Und was konn­tet ihr aus den bis­he­ri­gen Rück­mel­dun­gen mit­neh­men?

Weh­kamp: Die meis­ten Spie­ler_in­nen fan­den es lehr­reich und un­ter­halt­sam. Dabei waren Stu­den­t_in­nen bei den öf­fent­li­chen Ver­an­stal­tun­gen der Haupt­per­so­nen­kreis. Es hat uns über­rascht, wie viele Stu­den­t_in­nen sich nach­hal­ti­ges Woh­nen wün­schen und den Ge­dan­ken der ge­mein­schaft­li­chen En­er­gie­ver­sor­gung sogar at­trak­tiv fin­den. Neben Rück­mel­dun­gen von pri­va­ten Teil­neh­mer_in­nen haben wir auch über­ra­schend An­fra­gen sei­tens Stadt­pla­nung, Wis­sen­schaft und Um­welt­ver­bän­den er­hal­ten. Für uns na­tür­lich auch po­si­ti­ves Feed­back.

La­nez­ki: Ge­plant ist auch ein Bei­trag zur Wis­sen­schaft, indem die ge­mach­ten Er­fah­run­gen aus dem par­ti­zi­pa­ti­ven Vor­ge­hen ein­flie­ßen. Die Me­tho­de zur Ent­wick­lung eines guten Lern­spiels für die En­er­gie­wen­de, das Wis­sen ver­mit­telt und Spaß macht, ist für uns wich­tig. Davon kön­nen auch künf­ti­ge For­schungs­pro­jek­te pro­fi­tie­ren, ge­ra­de wenn sie kom­ple­xes Wis­sen ver­mit­teln und den Aus­tausch mit Men­schen wol­len. Daher ar­bei­ten wir an einer wis­sen­schaft­li­chen Ver­öf­fent­li­chung zu dem Lern­spiel. Wir kön­nen schon jetzt das Fazit zie­hen: Lern­spie­le sind als Werk­zeug für die Bür­ger­be­tei­li­gung gut ge­eig­net.

Wie kom­men In­ter­es­sier­te an eine Aus­ga­be des Spiels?

Weh­kamp: Wir stel­len alle Ma­te­ria­len auf un­se­rer Pro­jekt­home­page gra­tis zur Ver­fü­gung. Damit kann man sich das Spiel sel­ber zu­sam­men­stel­len oder sogar wei­ter­ent­wi­ckeln. Auf­grund der An­fra­gen haben wir uns auch dazu ent­schie­den ein paar Ex­em­pla­re von dem Spiel zu er­stel­len. Diese sind zum Selbst­kos­ten­preis von 199 Euro er­hält­lich.

Das Interview führte Peter Jung, Wissenschaftsjournalist beim Projektträger Jülich. Chan­ging the Game – Neigh­bour­hood Edi­ti­on ent­stand im Rah­men des Pro­jek­tes ENaQ.

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